(Zu Beginn des 11. Absatzes wurde die Funktion von Alena Buyx berichtigt.
Sie ist ehemalige Vorsitzende des Ethikrates.)
BERLIN (dpa-AFX) - Die Gewerkschaften sollen Deutschland nach dem Willen von
Bundespräsident und Bundeskanzler aktiv mit durch die aktuellen Krisen steuern.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier rief zu Optimismus trotz tiefgreifender
Umbrüche auf. Zum 75. Geburtstag des Deutschen Gewerkschaftsbunds appellierte
Steinmeier an den DGB, weiter "eine Stimme der Zuversicht" zu sein: "Die
brauchen wir."
Der DGB solle während des derzeit laufenden "Umbaus unseres Landes zu einer
klimaneutralen und immer digitaleren Wirtschaft" weiter für soziale
Gerechtigkeit streiten, sagte Steinmeier. Veränderung müsse nicht Bedrohung und
Verlust bringen.
"Neue Faszination des Autoritären"
Der Bundespräsident warnte vor Gefahren von rechts: "Wir leben in einer Zeit
einer neuen Faszination des Autoritären." Menschenfeindlichen,
national-radikalen, rechtsextremistischen Kräften dürfe nicht die Zukunft
überlassen werden. Die Umbrüche müssten gemeinsam sozial gerecht gestaltet
werden. Dies sei man vielen Gewerkschaftern schuldig, die in der Weimarer
Republik, dem Nationalsozialismus und danach für die Demokratie gekämpft hätten.
"Die freiheitliche Demokratie ist ein offenes und ein schützendes Haus",
sagte Steinmeier. "Wir Demokratinnen und Demokraten werden nicht zulassen, dass
dieses Haus von innen kaputt geschlagen wird."
Scholz für 15 Euro Mindestlohn
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) saß in der ersten Reihe - geäußert hatte er
sich schon zuvor per Videopodcast. Er bekräftigte sein Eintreten für kräftige
Mindestlohn-Steigerungen: "Ich finde, der Mindestlohn sollte schnell auf 14 und
im nächsten Schritt weiter auf 15 Euro steigen." Wer aber unter einem
gewerkschaftlich ausgehandelten Tarifvertrag arbeite, verdiene im Schnitt 700
Euro pro Jahr mehr als jene ohne Tarifvertrag.
Zum in der Ampel erneut umstrittenen Plan eines Tariftreuegesetzes versprach
Scholz: "Diese Verbesserung kommt." Der Bund soll dann nur noch Aufträge an
Firmen geben, die nach Tarif bezahlen.
Der Kanzler: Rentenreform in Arbeit
Scholz stellte sich auch noch einmal hinter das geplante Ampel-Rentenpaket
zur Stabilisierung der Alterssicherung. Aus den Reihen der FDP wird es in
vorliegender Form erneut stark kritisiert. "Das ist in Arbeit", sagte der
Kanzler. "Nur noch" der Bundestag müsse darüber entscheiden.
Der wirtschaftliche Wandel müsse gemeinsam von Politik, Gewerkschaften und
Arbeitgebern gestaltet werden, so der Kanzler. "Die 5-Tage-Woche,
Lohnfortzahlung, wenn man krank ist, ordentliche Tarifabschlüsse - das alles
würde es nicht geben ohne Gewerkschaften."
Fahimi fordert Plan von Ampel
DGB-Chefin Yasmin Fahimi forderte angesichts von Rezession und
Modernisierungsstau etwa bei der Digitalisierung: "Was wir brauchen, ist ein
verlässlicher Plan für eine zukunftsgerichtete Fortschrittspolitik." Öffentliche
und private Investitionen müssten Hand in Hand gehen. "Es wäre grundfalsch, die
Jahrhundertaufgabe der Transformation den Nachfolgenden als
Transformationsschulden zu hinterlassen."
Im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur hatte Fahimi der
Ampel-Regierung zuvor schwere Vorwürfe gemacht: Derzeit würden viele wichtige
Vorhaben blockiert und in Krisenzeiten wertvolle Zeit vertan, sagte sie mit
Blick auf den FDP-Kurs bei Rente, Tariftreue und Schuldenbremse.
Ethikrat: Bullshit-Themen aus Politik drängen
Die ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Alena Buyx, forderte die
Gewerkschaften auf, zu helfen, "Bullshit-Themen" von der politischen Agenda zu
drängen. Bullshit-Themen würden etwa von Populisten eifrig bespielt - etwa die
Debatte übers Gendern oder andere emotional aufgeladene gesellschaftspolitische
Themen. "Die holen ganz viel Empörung, ganz viel Dopamin ab - das ist absolut
toxisch, wenn man wirklich über ernsthafte Dinge nachdenken möchte", sagte Buyx.
Wirklich zählen würden Themen wie Einkommen, Jobs, Rente, die Wohnungsfrage
oder die soziale Infrastruktur, ergänzte der Soziologe Steffen Mau.
Rechtspopulisten drängten der Politik aber oft Themen auf, die in Wahrheit gar
nicht besonders relevant seien. Die Gewerkschaften müssten deshalb selbst mehr
Agenda-Setter mit den echten Zukunftsfragen werden, forderten Mau und Buyx. Die
beiden prominenten Wissenschaftler hatten auch schon Funktionen in der Beratung
von Politik inne.
DGB-Chefin Fahimi räumte ein, ihre Organisation könne besser werden etwa
beim Werben für ihre Themen. Fahimi verwies aber auch auf Neues bei Deutschlands
Gewerkschaften: Influencerinnen und Influencer, die seit Kurzem Posts und
Beiträge über Arbeits- und Gewerkschaftsthemen veröffentlichen - auf ihren
eigenen Kanälen, ohne DGB-Auftrag, aber selbst als Gewerkschafter. Rund 60
solcher junge Social-Media-Aktive hätten sich an den DGB angedockt, so eine
Sprecherin.
"Nicht Untertan wollen wir sein!"
Der Gewerkschaftsbund wurde am 13. Oktober 1949 in München gegründet. Der
erste Vorsitzende war der von den Nazis verfolgte SPD-Politiker und
Gewerkschafter Hans Böckler. Steinmeier zitierte ein wichtiges Motto Böcklers:
"Bürger, nicht Untertan wollen wir sein!"/bw/DP/he